DER SINN VON GRENZE
Łukasz Huculak

Trennung ist die allgemeine Funktion der Grenze. Die Trennungslinien sind manchmal natürlich entstanden: etwas endet, etwas anderes fängt an. Es gibt jedoch auch Fälle, wo die Grenzen nicht natürlich, sondern einem politischen Zweck untergeordnet sind. Sie schaffen ein neues Netz von Teilungen und Trennungen, das oft die schon existierenden und verhältnismäßig natürlichen Grenzen abschafft und ersetzt. Der Unterschied ist beispielsweise besonders sichtbar, wenn man die Grenzen in Afrika oder Amerika mit den Grenzen in Europa vergleicht. Die ersten sind, so zu sagen, ruhig, natürlich, weil sie natürlich entstanden sind. Die zweiten, die Grenzen in Europa, dagegen verblüffen mit ihren spontan verlaufenden, sich selbst nicht sicheren Linien.
Eine Linie erscheint. Links von ihr gibt es die Farbe Rot, rechts von ihr gibt es die Farbe Grün. An was erinnert uns das? Könnte man vielleicht die Grenze als eine Linie betrachten, wo Ästhetik und Politik sich treffen und gegenseitig beeinflussen? Ist es vielleicht so etwas, wie eine Art von Geometrie, die sich mit der Nation und ihrer Weltanschauung befasst? Auf dieser Weise offenbaren und vervollständigen sich, im Raum, die nationalen und die politischen Ideen: Dreidimensional in der Wirklichkeit und zweidimensional auf der Karte.
Grenzen als Katalysatoren von Trennung und Systematik sind gleichzeitig eine räumliche Versinnbildlichung von menschlichen Beziehungen in ihren Makroaspekten, eine natürliche Umrisslinie der Andersartigkeit. So lange die Unterschiede im Inneren der Umrisslinie verbleiben, ist die Angelegenheit einfach, man könnte sagen, sie ist apollinisch klar. Ab und zu passiert es aber, dass die Grenzen sich gegenseitig durchdringen und zwei Mengen von andersartigen Elementen zu einem gemeinsamen Teil verschmelzen (verwinden zwingen pressen). Als Konsequenz verläuft dann die Grenze als ob sie „verrückt" wäre und an anderen Orten löst sie sich fast auf. Die Einzigartigkeit von Zgorzelec besteht darin, dass die Stadt, obwohl heute eine selbständige Einheit, sich seit etlichen Jahren in „Separation" (Trennung) befindet. Auf die alten, natürlichen urbanen Grenzen, die in einem langjährigen Prozess entstanden, wurden politisch von oben geplante Grenzen aufgezwungen.
Die Grenze ist ein Umriss, also eine Linie, die eine Form bestimmt. Solche Darlegung einer Gestalt hat nicht nur eine politische Dimension, sondern auch einen gewissen ästhetischen Sinn. Die Trennung ist ein Werkzeug der Heterogenität - hier wird die Vielfältigkeit geboren. Die Formen von kleineren territorialen Einheiten bilden, wie ein Puzzle, die Gestalt von größeren Organismen. Einige von diesen Organismen wachsen, ziehen immer neue Organismen an und versuchen oft sich bis zu den sog. natürlichen Grenzen auszubreiten, wobei ihre Konturen, formal gesehen, immer überschaubarer (mehr kohäsiv) werden. Andere dieser Organismen zerfallen, teilen sich und entwickeln sich so weiter. Ihre Grenzen werden zunehmend kompliziert. Man könnte hier die Frage stellen: Was akzentuiert man mehr, sucht man die Unterschiede oder zeigt man die Ähnlichkeiten? Der Formgeber dabei, der diese künstlerische Tätigkeit auf der Oberfläche der Weltkugel ausübt, ist die Geschichte, das Werkzeug, das sie am häufigsten dabei benutzt, ist die Politik, und - man könnte sagen - der Krieg funktioniert hier wie eine besondere Art von Radiergummi. Für einen Bürger ist die Gestalt der Staatsgrenze, neben der Nationalflagge, ein visuelles Instrument seiner Identifikation und die Nationalhymne ein akustisches.
Wie könnte die Welt ohne Grenzen aussehen? In seinem Essay „Wir, Flüchtlinge", schreibt der Philosoph Giorgio Agamben über die Schwierigkeiten die rechtliche Lage „des Menschen" genauer zu bestimmen und wie der Begriff „Mensch" mit dem Begriff „Bürger" zu ersetzen sei. Der Mensch ohne Staatsbürgerschaft befindet sich in einem Zustand, der nicht normal eher provisorisch ist. Die Staatsbürgerschaft ist ein besonderer Zustand der Menschlichkeit: Es ist eine Zuordnung (meistens genetisch bedingt) von menschlichem Individuum zu einem bestimmten, rechtlich definierten, Ausschnitt der Weltkugel, zu einer konkreten Gestalt auf der Karte. Der Mensch ohne dieser territorialen, nationalen Zuordnung verliert sein Status als Bürger, der nicht nur gewisse Pflichten, sondern auch gewisse Rechte hat. (Eine Nation ist eine Gemeinschaft, die ein Territorium bewohnt und sich mit diesem Territorium als ihrem charakteristischen Kennzeichen identifiziert.) Für ein juristisches System existieren die Menschen ohne dieser territorialen Zuordnung überhaupt nicht: politisch gesehen, sind sie entweder Flüchtlinge oder Staatenlose (Apatriden). Zu ihrem alten Staat gehören sie nicht mehr und der neue Staat muss sie (meistens) entweder einbürgern oder abschieben. Patriotismus ist nach wie vor ein wichtiger Kulturfaktor, der das Schicksal von einzelnen Menschen, die sich mit dem gegebenen politischen Gebilde (Organismus) identifizieren, bestimmt. In dem zitierten Essay schreibt Agamben: „In der rechtlichen Ordnung des Staates gibt es keinen Platz für so etwas wie den puren Mensch pur - dem Menschen an sich" (Agamben, polnische Ausgabe - PKP, 29). Der Flüchtling ist nach Agamben immer eine Bedrohung für den Staat, weil er jenseits der Triade Staat/Nation/Territorium funktioniert. Der Flüchtling, der Apolis (im gewissen Grad auch jede Art von „Migrant") ist ein Mensch im Vakuum, er ist eine radikale Reduktion des Bürgers zum Menschen pur. Das ist wahrscheinlich das, was den Flüchtling so attraktiv für Agamben (ein Anarchist?) macht.
Auf dem europäischen Kontinent wurden die Karten sehr häufig korrigiert. Nach wie vor sind sie ein Instrument nationaler Identifikation, sie verlieren langsam ihre Greifbarkeit und als räumliche Barrieren werden sie zunehmend abstrakt. Menschen bewegen sich uneingeschränkt trotzt aller ethnischer und politischer Unterschiede und Ideen. Das ist ein Experiment, dessen Besonderheit wir alle gut verstehen. Es gibt natürlich auch solche, die dieser politischen Kreatur einen baldigen Tod prophezeien, weil sie meinen, diese Kreatur sei gegen die Ordnung der Welt. Die anderen betrachten allerdings die übernationalen Verwaltungsstrukturen als das beste Werkzeug zum Lösen nationaler Konflikte.
Das Umpolen der Bindung von Staat und Nation hin zu Gemeinschaft und Verwaltung liefert heutzutage reichlich Stoff für einen heftigen Meinungsstreit bezüglich der Gestaltung der Europäischen Union, der an einen Streit zwischen zwei unterschiedlichen Philosophien erinnert. In einer seiner Schriften beschäftigt sich Agamben mit der Frage von Jerusalem, einer Stadt, die von zwei Gemeinschaften als ihre geistige Hauptstadt betrachtet wird. Diese Gemeinschaften bewohnen dasselbe Territorium, sind aber politisch verfeindet. In einem der Projekte zur Lösung des Konfliktes im Nahen Osten schlägt man vor, Jerusalem gleichzeitig zum Verwaltungszentrum beider national unterschiedlicher Organismen zu machen. Es wäre dann ein politisch kohärenter Organismus, ohne räumliche Barrieren und politischer Teilung zwei Staaten. Somit wäre auch der Raum, das Territorium losgelöst von der Nation, einer Nation zumindest, und die Gemeinschaft wäre nicht mehr in die traditionellen räumlichen Verhältnissen eingepasst. Was würde so eine Gemeinschaft verlieren? Ihre eigene, einzigartige Gestalt auf der Karte, statt Territorium bleiben Grenzen. Die mentale Identifikation mit der Nation wird dabei nicht abgeschafft - sie wird konzeptionalisiert und ihre unmittelbare Fassbarkeit verlieren.
Auf diese Weise, mit einigen politischen Ansätzen, haben wir die ganze ästhetische Evolution der Moderne verfolgt und sind zur Ansicht gekommen: Eine „vielschichtige" politische Lösung mit mehreren Staaten in einem Raum, schafft eine Situation, die ziemlich chaotisch und nicht überschaubar ist. In Gebieten, wo viele böse Emotionen konzentriert auftreten, ist eine solche Lösung politisch unvorstellbar. Dort würde man eher Wüstenstrecken als Pufferzonen brauchen und nicht die gemeinsamen Territorien mit hoher Bevölkerungsdichte. Allerdings muss man auch annehmen, dass das Modell Staat/Nation/Territorium nicht unveränderlich fortbesteht, sondern dass dieses Modell auch evolutionären Änderungen unterliegt.
Der Konflikt zwischen Wallonen und Flamländer in Belgien macht diesen kleinen Staat zu einem quasi Labor, in dem man sich mit solchen Problemen ständig auseinandersetzen muss. Die letzten Wahlen haben die separatistische, rechtsradikale flämische Partei N-Va zur Macht gebracht. Bart De Wever, Vorsitzender dieser Partei, fordert eine Teilung Belgiens in einen flämischen und einen wallonischen Teil, gleichzeitig aber - dabei ist er auch ziemlich radikal - will er die äußeren Grenzen Belgiens abschaffen und Belgien vollständig in die EU Strukturen integrieren. Er tut so, als ob er den Begriff Staat neu definieren möchte, er scheint zu fragen: wenn Verwaltung und Organisation der Gesellschaft die Hauptfunktionen des Staates sind, wozu braucht man dann eine Nation? Wie lange noch werden wir den Raum, den uns die Weltkugel zu Verfügung stellt, auf diese genetische Weise charakterisieren und interpretieren?
Vielleicht ist Kunst unter diesem Aspekt auch so etwas wie ein Labor, in dem die Prozesse die politische Geschichte überholen. Anderseits ist es auch denkbar, dass die Grenzen eigentlich doch noch notwendig sind. Als Gestalt bzw. Form, die das Erkennen, das Nennen und das Bestimmen möglich machen, als Mittel gegen Formlosigkeit, die nur verwirrt und paralysiert. Dann würde eine Nation - auch jene, die nur rein gedanklich existiert - bei der Grenzsetzung als ein Hilfsmittel dienen. Folglich könnte man die Grenzsetzung als eine schöpferische Tätigkeit betrachten, die im formlosen Stoff unserer blauen Planeten ausgeübt wird, als eine Art „Kunst der Erde".
Natürlich nicht ohne Ironie könnte man vielleicht sagen, dass einer der größten „Künstler" solcher Art, Stalin war. Er hat die größte Zahl der inneren Grenzen abgeschafft, man denke auch an die Schaffung des sowjetischen „Volkes", und an die vielen neuen äußeren Grenzen. Er ist u. a. der Autor der Grenze, die durch Görlitz / Zgorzelec verläuft. Angeblich gibt es Karten von Mitteleuropa mit seinen viel farbigen Grenz-Zeichnungen. Im Fall Görlitz / Zgorzelec hat er die „Lausitzer Neiße" zur Grenze bestimmt.
Grenzüberschreitung, sogar Annexion eines neuen Raums war und ist für die Kunst schon immer eine der wichtigsten Fragen. Umreißen, Gestalten und die Formgebung sind dabei die Lieblingsmittel der Kunst. In der Europastadt Görlitz / Zgorzelec sind diese für die Kunst so wichtigen Prozesse - das Überschreiten, das Überlappen und das Verwischen von Grenzen - noch deutlicher geworden, seitdem Polen EU Mitglied geworden ist. Könnte man sich eine Situation vorstellen, in welcher die polnische Verwaltung, aus welchen Gründen auch immer, Räumlichkeiten auf der deutschen Seite mieten kann und umgekehrt? So eine Stadt würde so ein Muster für das „doppelte" Jerusalem werden und Agambens Ideen verwirklichen…