UNVOLLENDETE KUNST
Łukasz Huculak

Nach außen , oder im Gegenteil – nach innen. Die zwei grundlegenden Richtungen, in denen sich das Universum misst, bestimmen ebenso den Blick des Künstlers.
Wir blicken instinktiv und empathisch nach außen. Selbstbewusst, oder sogar egoistisch – nach innen. Die Kunst, wenn sie die Welt zu verstehen versucht, schaut dorthin, wo sie selbst nicht ist. Wenn sie sich mit ihrem eigenen Geheimnis abfinden will, blickt sie auf sich selbst. Indem sie den eigenen Blick genau dahin richtet, betrachtet sie das eigenen Innere und analysiert die eigenen Grundsätze, verlagert sie gewissermaßen ihre Eigenart in den Raum der Außenwelt. Und was dann?
Die Inspiration: Velazquez-Manet. Die Nachahmung: giotteschi, leonardeschi oder caravaggioneschi. Analyse-Synthese: Zeichnungen von La Tour zu Stażewski. Negation: das Wegradieren de Koonings zu Rauschenberg. Transposition: „Las Meninas" Picasso … usw. Wachsfiguren von Urs Fischer, Zofia Kuliks „Botschafter", Cindy Shermans Portraits. Letztlich - Sturtevant. Und vor allem Duchamps „L.H.O.O.Q": ein einzelnes Kunstwerk, Künstler, Stil, oder sogar die Idee als Art objet trouve oder ready made, eigentümliches „offenes Werk". Das ist er, R. Mutt, er entsakralisierte das Kunstobjekt, indem er den Blick auf den Urheber und die Originalität erneuerte, hierbei paradox an die vorneuzeitliche Epoche anknüpfte.
Ich bestätige – ich bestreite
Für die mittelalterliche Kunst ist nämlich die Masse der anonymen „Meister" charakteristisch: dieser oder welcher Altarmeister oder Madonnenmeister, dort wo ein Thema, Motiv, Objektfunktion, jedoch nicht der Autor des „Etiketts" wesentlich sind. Erfindungsgeist und Originalität des Schöpfers förderte die Renaissance und spielte den Manierismus hervor. Den eigenen Charakter des Künstlers heiligte letztlich der Romantismus. Für beide Zeiten war das Bewusstsein der persönlichen Eigentümlichkeit charakteristisch, wenn nicht sogar die Überlegenheit, über das, was war. Der Glaube, dass dem was war, unerträglich fehlte, was heute ist.
„Jetzt" bezieht sich dennoch immer aufs „einst". Wie das „ist" niemals den Kontext dessen, was „war" überwindet. Die Welt, und die Kunst gemeinsam mit ihr, dauert an wie eine Kontinuierung, eine Optimierung und Perfektionierung bestehender Muster, sei es als Kontra gegen sie, die Revolution: die Anfechtung und Aufgabe von Betrachtungen und Leistungen der Vorgänger. Doch der Verwerfende weiß immer, was er verwirft, und das Verworfene beschreibt unwillentlich die Gestalt des ihm Nachfolgenden.
Die Trennungslinie der Epochen spiegelt zumindest den Prozess bis zum Moment des Umsturzes wider, den Duchamp volltat, indem er in die Kunstgeschichte Objekte und Losungen einbrachte, die weder eine positive noch negative Analogie besaßen zu irgendetwas, was zuvor bestand.
Jedoch auch diese Revolution folgt gewissermaßen der Logik „Ich bestätige – ich bestreite".
Vermischen oder vereinfachen?
Versuchen wir den Philosophen nachzuahmen, der die ganze Philosophie als gerade mal eine Art Fußnote zu Platon und Aristoteles bezeichnet, dass der Kunst heute nichts weiter bleibt, als zu kommentieren. Wen? Da Vinci, Vélazquez, Cézanne, Picasso, Malewicz, Duchamp… Diese Liste auf nur zwei Namen zu reduzieren, wäre schwer, doch man kann sagen, dass soweit der Glaube der Postmoderne durch Vermischung/Verbindung erneut wurde, könnte die Kraft der Moderne in der Vereinfachung/Präzisierung liegen. Vielleicht ist die radikale Erneuerung heute (und sicher war es immer so) schwer vorstellbar, Künstler mit Ambitionen zur Modernisierung könnten weiter Verlust/Versehen füllen, Lücken, entstanden zwischen allem, den großen Ideen/Werteveränderungen meist zu Extremen in der Moderne führend: Naturalismus und Suprematismus, Malerei der Materie und konzeptuelle Unterlassung, eskapististischer Ästhetizismus und vulgärer Turpismus.
Bedeutet das, wenn es alles schon gab, dass die Kunst am Ende ist? Selbst wenn man anbringt, dass wir nur zum nach-erzählen, anfechten, oder sogar nachahmen verurteilt seien, ist auch das nicht so schlecht. Jedwede Wiederholung wiederholt doch nicht das gleiche, wenn man sie an anderem Ort, zu anderer Zeit wiederholt, so geschieht sie doch in Verschiebung – movement, und ruft in der Bewegung das zurück, was schon einmal erstellt war, stehend. Die Veränderung des Kontextes ist eine Begegnung - meeting, Dinge bis dahin einzeln und doch als neue Konfiguration die Kraft haben, neuen Sinn zu erlangen. Nimmt man das, was war, enthüllt es das, was sein könnte oder gar sein wird, so stillt es zumindest für den Moment den formalen Apetitus über den jede Gestalt oder Idee verfügt.
Das gleiche, aber etwas anderes
Die gleiche Sache ist eine andere Sache. Eine andere hier, eine andere dort. Das ist der Sinn, das kann der Sinn in „Kunst von Kunst" sein, das Werk, das auf ein anderes Werk zielt. Malerei in der Manier Caravaggios ist nicht unsinnig und heute, solange es kein weiteres Abhandeln Caravaggios, sondern die Rede über uns durch Caravaggio ist. Wie jeder von uns die Rede nutzt, das Wort, das über tausende Jahre ohne uns entstand, um seinen eigenen, privaten Sinn zu formulieren, so muss der Künstler das Recht haben die Kunst zu nutzen, nicht nur indem er die allgemeine Idee, sondern ihre einzelnen Ausdrücke durch andere Künstler geprägt, um ihren eigenen Ausdruck zu unterstreichen und zu erlangen, im Neuen und Anderen, zumindest verdoppelt.
Ahmen wir also unaufhörlich nach – wenn schon Rimbaud sagen konnte „Ich bin jemand anderes", dann deswegen, weil wir in der Retrospektive zur Vervielfältigung verurteilt sind, uns als ein anderer zu wiederholen oder ein anderer als uns. Die Welt ist zu mindest zweifach, wenn auch dadurch, dass selbstverständlich „ich" niemals ganz im Jetzt sein kann, sondern zugleich „war", und niemals im „werde". Jede neue Form oder Empfindung ist eine Exposition nicht nur einer Vollendung, sondern auch einer Möglichkeit, die in sich das nächste Potential trägt, nach Äußerung verlangt. Manchmal sagen wir: „Großartig" und wollen es bestätigen oder sogar optimieren, manchmal „Daneben" und lehnen es ab, doch sogar diese Haltung einer negativen Position beinhaltet einen kreativen Charakter. Es ist nämlich so, das Dinge nicht gleich in ihrer vollkommenen- „besten aller möglichen" Formen entstehen, auch selbst wenn sie schon so erdacht wurden.
Die Idee des Automobils ist heute die gleiche, wie vor einhundert Jahren, jedoch die Leistung und die Gestalt dieser Maschine unterliegt fortwährend der Perfektionierung und das ebenso mittels Vereinfachung, wie auch ihres Gegensatzes/Verkomplizierung. Wenn sich also jede Form schrittweise offenbart, nicht auf einmal, ist ihr Potenzial zur Verbesserung, Sublimation, Synthese oder Analyse Beweis dafür, dass ihr „Imago", das innere Bild dieser Sache so verschwommen (jedoch glaubhaft) ist, dass erst greifbar ihr äußeres Bild – Artefakt, die Bezeichnung ihrer Fehler und Ergänzungen als „unvollendet" erlaubt.
Treibstoff
Mit der Kunst ist es wahrscheinlich genauso. Man kann nicht sagen, dass Manet besser ist als Giotto und schlechter als Richter, denn es sind nicht vergleichbare Dinge. Jedoch ist Richter aus dem Bewusstsein jener beiden in einer besseren Position und seine malerische Reflektion kann dadurch, wenn nicht tiefgründiger und klüger, so doch zumindest aktueller sein.
Jedoch nur dank ihm. Dank des Vorfahren und Wegbereiters. Es muss also einen Bezugspunkt geben oder etwas, gegenüber dessen man einen Widerspruch formulieren kann, abhängig davon, was die neue Welt uns von sich selbst oder auch von uns erzählt und was jene nicht wussten. Es ändert allerdings nicht die Tatsache, dass die Entwicklung oder auch die Ausweiterung des Bereichs ein Resultat oder Verschiebung/Veränderung des Kontextes ausmacht: Das gleiche Gebiet bedeutet heute etwas anderes, als es einst bedeutete, oder die Verschiebung – also eben diese „Verbesserung", doch auch Begegnung-Vermischung, Aufstellung von Fakten und Objekten, die bis dato einzeln geprüft wurden. Solch eine Begegnung kann kein Tabu sein, die Dauer in der einen, ursprünglich vorgesehenen Position ist der Verzicht auf Sinn und Empfindung, die uns eher ergänzt als verfälscht.
Wenn man die Vergangenheit als eine Art konzeptionellen Treibstoff behandelt, nicht jedoch als archäologisches Exponat, können wir ein neues Gefühl provozieren, einen neuen Sinn offenbaren. Erlauben wir uns also zumindest eine Annektierung in Abwesenheit und ein Leasing der schon vorhandenen Form zum Ziel, Neues zum Ausdruck zu bringen.
Wenn in der Kunst schon alles war – umso besser, denn dessen ist viel und mit diesem Potential verbunden sinnschaffende Konjunktion und unendliche Kooperation.
Wenn das Werk „offen" bleibt, wird die Vollendung (Endlichkeit) zu nichts weiterem als „die Unendlichkeit verlassende positiv gestaltete Einschränkung" (Foucault). Das Schema der Arbeit am Werk eines anderen Künstlers bedeutet, im Übrigen übereinstimmend mit der heutigen egalitären und demokratisierenden Idee der „allgemeinen Teilnahme", die vorsichtige Nichtbeachtung der auserwählten Person: Autor, Einheit. So wie es im mittelalterlichen Skriptorium war, wo sich der Autor damit abfand, nur „Werkzeug" einer Idee zu sein, nicht ihr bedingungsloser Eigentümer.
Stellen wir uns vor, die Welt sei ursprünglich mit Ideen ausgefüllt, der Quelle, sie seien schon hier, bevor sie durch uns erdacht wurden.
Sie steigen auf, ungesehen jedoch spürbar, und wir sind die einzigen, die auf sie stoßen. Sie dringen uns in den Kopf, wenn wir uns in der Reichweite ihrer Strahlung befinden. Sie durchdringen wie Röntgenstrahlen, durchleuchten, oder besser „erleuchten". Doch können wir uns wirklich ihre Eigentümer fühlen, eben ihre „Autoren"?